Zwischen der kritischen Bedingung der praktischen Erfahrung und der Doktrin: Dechiffrierung der Perversion (Zwei Beispiele)

in Leonor Sáez Méndez, Kant ein illusionist? Das retorsive und kompositive Verfahren der kantischen Urteilskraft nach dem philosophischen Empirismus, Universidad de Murcia, 2010, pp. 201-204

Der Ausgangspunkt der Auseinandersetzung war die Frage nach dem Antagonismus im Sinne seiner Kompatibilität und angesichts einer Erhaltung des Systems, einer Erweiterung bzw. Verengung unter der Bedingung einer mitwirkenden Kraft einer differenzierten Freiheit als Kausalität.
Zwischen die kritische Bedingung der praktischen Erfahrung des jeweils Anderen und die Doktrin gehört eine “leibhaft schematisierte Dynamik des Ideals”.
Die Interpretation der dargestellten These muß aber in langsameren Schritten vorgenommen werden. Es ist zu verstehen, daß Kants Begriff des Erhabenen mit Bezug auf die Ethik anders verfährt (denn er stammt aus der Empirie) als seine Konzeption der formalen Ethik; d. h. wir finden die Vernunft in ihrer ungeheuren Wirkung. Gegen R. Riha und Lacan wäre für Kant der Ausgangspunkt kein Nichts, sondern die Erweckung der Vernunftideen durch das Vermögen der du. Urteilung in dem Affekt als Lust oder Unket fundierten Einbildungskraft oder die Überlegenheit der Heautonomie. Gemäß den Abgrund nach der zitierten Stelle B 111 A 110 der Kr. d. U. im Sinne des dynamischen Erhabenen interpretiert man, daß einerseits die aus dem Gefühl des Erhabenen erforderte Empfänglichkeit des Gemüts für die praktischen Ideen und andererseits die Anspannung der Einbildungskraft, die Ambivalenz zwischen “abschreckend für die Sinnlichkeit” und Anziehung eine offene Tür der Natur für das Intelligible bzw. einen Zugang des Intelligiblen zur Natur den kaum verqueren Weg ausmacht. Trivial ausgedrückt stellt Minette Walters in ihrem Kriminalroman “Die Bildhauerin” die Frage nach der Ethik nicht so sehr im Sinne des kategorischen Imperativs, sondern hinsichtlich der Perversion, und zwar im Sinne der engen Pflichten. Innerhalb einer erscheinenden Aporie, ob die Schönheit (hier im Sinne des Guten35) vom Inneren oder vorn Äußeren kommt, interpretiert sie die berühmte Parabel: “Es sei leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr geht als daß ein Reicher in den Himmel kommt”, wie folgt:
1. Wenn man reich und schön (also gut) ist, öffnen sich einem die Himmelstore ganz von selbst. aber das wirkliche. das getroffene Problem der Parabel sei anders (Seite 75-76): “Ein wohlhabender junger Mann fragte Jesus, wie er das ewige Leben erlangen könnte, und Jesus sagte: Beachte die Gebote. (…) dann verkaufe all deine Habe und schenken sie den Armen. Und dann folge mir. (…) Aber meiner Ansicht nach wollte Jesus folgendes sagen: Bisher bist du ein guter Mensch gewesen, aber wenn du feststellen willst, wie gut du wirklich bist, dann werde wie der Ärmste der Armen. Die Vollkommenheit besteht darin, mir zu folgen und die Gebote zu beachten, obwohl man so arm ist, daß Stehlen und Lügen zum täglichen Leben gehören. wenn man gewiß sein will, am nächsten Morgen wieder aufzuwachen. Ein Ziel, das unmöglich zu erreichen ist”. Die Autorin stellt die Aporie auf Grund einer Perversion und nicht eines unvollkommenen Guten dar.
Manlio Sgalarnbro stellt in seinem Essay “Vom Tod der Sonne” diese Gedanken in anderer Weise und vieleicht nicht so deutlich dar. Er nennt die Perversion “Autonomie der Natur” und stellt ihr die “Erweckung” als Resultat eines Unendlichen gegenüber das sich als Kontrast unserer Endlichkeit als ein Ganzes manifestiert. So beschreibt er eine doppelte Dynamik: einerseits geht es um die Anerkennung des Fremden. andererseits ist der Beobachter der Maßstab des Fremden: es gibt etwas Unvollkommenes. weil es nicht meiner Ganzheit entspricht, d. h. das Verhältnis bezieht sich auf die Spiegelung. So kann man verstehen warum M. Sgalambro in “Vom Tod der Sonne” (S. 59 – S.61) anders als in “Das Gute kann seinen Grund nicht in einem menschenmordenden Gott haben”36 argumentiert. Er verwechselt zwei “Observatorien” (S. 61). Gemeint ist hier, daß, wenn er als das Gefühl des Erhabenen im Sinne der Ethik ein Zitat des mathematischen Erhabenen37 benutzt, er die Situation der Ethik im Sinne des Erhabenen in einer Maßstabanpassung bringt, die nahezu eine Spiegelbeziehung ist, jedoch nicht in der Dynamik der Macht als Metapher, wohin Kant die Ethik in dieser Überwindung der pervertierten Situation bringt. Lexikographisch gesehen, findet man bei den §§ 28 und 29 nicht mehr das “absolute Ganze” oder den “Maßtab” oder die “Unangemessenheit”.

Dreht es sich hier dann nicht urn zwei Perspektiven? Einmal betrachtet er die Endlichkeit von der Unendlichkeit aus durch die Beschränkung der Unendlichkeit, ein andermal schaut er aus dem Widerstand heraus, d. h. aus dem Beschränkten, die Allgewalt an. Das heißt nicht, daß das mathematische Erhabene nicht in dem dynamischen inkludiert ist, aber nicht daß das dynamische aus den mathematischen ableitbar ist. Wenn der andere, als Lebewesen ins Spiel kommt, wird er innerhalb des Bereichs des mathematischen in das Schema des Im-Anderen-bei-Sich-Seins geraten, innerhalb des dynamischen ist das Fremde als Fremdes oder Fremder beschrieben. Ob noch eine Transformation des Von-sich-Absehens möglich wäre, wäre als Frage der “Überlegenheit über Hindernisse” notwendig. Ob das einen notwendigen, aber nicht einen zureichenden Grund ausmacht, wäre noch eine andere Frage. Gemeint ist also, ob man in der Lage ist, den Bezug des Fremden nicht in der Spiegelung, nämlich in irgendeiner Form der Referenz des Ichs, sei das symbolisch oder formal, sondern in der Transformation eines Wir oder Gattungswesens zu sehen. Dies soll nicht heißen, daß auch im Gattungswesen Spiegelung möglich ist.
Hinsichtlich der Wissenschaften werden beide Perspektiven der Fragestellung deutlicher: mar geht, wie M. Sgalambro meint, der Frage im Sinne von: “das Gehirn des Menschen ist nicht menschlich” nach, denn die Wissenschaft, besser das Wissen, hat die Tendenz, unbegrenzt zu sein, weswegen man die Unbegrenztheit beschränkt, sodaß sich viele Dinge erklären lassen, aber wir könnten die Menschen in diesem Universum verlieren. Man kann auch von einem umgekehrten Weg aus verfahren, nämlich nach dem Faktum: “das Gehim des Menschen ist menschlich” und deswegen begrenzt; die übermächtige Natur kann den Menschen überrumpeln38. Offensichtlich ist das, was dahinter steht, die Folge der doppelten Formulierung der Modalverfahren. Wir können von einer Gesetzmäßigkeit ausgehen, aus Notwendigkeit, oder aber aus empirischer Überlegenheit aus der Zufälligkeit. Aus der Perspektive der Natur unterscheidet man zwischen einem “Mathematisch-Erhabenen” der Natur, einem “Grundmaß” der Natur oder einem “Naturobjekt” und der dynamischen Natur.
Zwei Verhältnisse sind dadurch hergestellt: Erstens die Feststellung einer Vernünftigkeit, die sich nur in der Wirkung legitimiert, welche auf das Verhältnis von Teleologie und Erhabenem verweisen kann, und zweitens eine Interpretation des Erhabenen als einmaliges Ereignis, weswegen er auch ein Vorher und ein Nachher ausdrückt, was auch eine Eigenschaft der Geschichte ist. Die “Einmaligkeit” hat die Besonderheit, daß sich ihre Voraussetzung wiederholen kann, mindestens als Möglichkeit, wenn nicht das Ereignis selbst schon eine Beschaffenheit der Geschichte ist (denken wir an den “vierten Kanon” gegenüber Canettis Einmaligkeit).

35 Die Autorin verfehlt den Unterschied von gut und böse schön und herrlich. Fur sie ist schön synonym zu gut. Vgl. Minette Walters: Die Bildhauerin. Berlin 1895.
36 Manlio Sgalambro: Das Gute kann seinen Grund nicht in einem menschenmordenden Gott haben. Im: Woran glaubt, wer nicht glaubt? Hrg. von Carlo Maria Martini u. Umberto Eco. Wien 1998. S. 108-111.
37 Vgl. KU beim mathematischen Erhabenen B 101 A 100: “»aber die Unlust« (…) wird doch in Hinsicht auf die notwendige Erweiterung der Einbildungskraft zur Angemessenheit mit dem, was in unserm Vermögen der Vernunft unbegrenzt ist, nämlich der Idee des absoluten Ganzen, mithin die Unzweckmäßigkeit des Vermögens der Einbildungskraft doch für Vernunftideen und deren Erweckung als zweckmäßig vorgestellt”.
38 M. Sgalambro stellt die Differenz aus anderer Perspektive dar. Vgl. S. 58f.
39 Im Sinne Hobbes aber auch im Sinne, daß Aporie oder Widerspruch “eine scheinbare Ausregellosigkeit, die wir aufzulösen haben (…)” ist. Vgl. M. Benedikt. Univ. Wien Ko. 5. XI. 1997.

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